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Entschädigung für misshandelte Heimkinder

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Ravensburg / sz - Waldemar Mehlfeld erinnert sich an panische Angst vor dem Gespräch mit dem Heimleiter. Und daran, dass er einmal mehrere Tage danach nicht sitzen konnte. Aus Erfahrungsberichten und Aktennotizen von ehemaligen Heimkindern und Mitarbeitern schaffen die Autorinnen Inga Bing von Häfen und Nadja Klinger in ihrer Dokumentation „Du bist und bleibst im Regen – Heimerziehung in der Diakonie in den 50er bis 70er Jahren in Oberschwaben“ ein vielschichtiges Bild über die Situation und den Missbrauch von Heimkindern in der Nachkriegszeit.

Mut machen, zu reden

Der neunjährige Waldemar Mehlfeld litt nach einem Arbeitsunfall mit zweifachem Schädelbasisbruch und 36 Knochenbrüchen unter Kopfschmerzen und Alpträumen. Als er nachts die Erzieherin weckte, griff sie nach seiner Schlafanzughose, zog sie runter und schlug mit dem Stock zu. „Wenn meine Geschichte in diesem Buch steht, kann ich damit anderen Menschen Mut machen, auch zu reden“, sagt ein anderes ehemaliges Heimkind.

Bundesweit kommen in den letzten Jahrzehnten die Lebensbedingungen von Heimkindern nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sprache. In die Einrichtungen der „Zieglerschen“, des großen diakonischen Unternehmens, kamen ehemalige Heimkinder und Mitarbeiter, studierten die Akten, erzählten. „Und wir hörten zu, erschüttert und betroffen“, schreibt Vorstandsvorsitzender Harald Rau in seinem Nachwort. Um sich der Wahrheit zu stellen und Verantwortung zu übernehmen, entstand in Zusammenarbeit mit der Historikerin Inga Bing von Häfen und der Journalistin Nadja Klinger die 240 Seiten starke Dokumentation.

Waldemar Mehlfeld bekam Prügel für alles Mögliche. Zum Beispiel dafür, dass er verkündete an nichts und niemanden zu glauben. Zu seiner Leidenszeit im Heilerziehungsheim Wilhelmsdorf gehören auch sexuelle Übergriffe. Und doch sieht er auch Lichtblicke, hilfreiche Menschen, und hatte letztlich sogar die Kraft sich zu wehren.

Ein Praktikant im Martinshaus Kleintobel berichtete dagegen im Jahr 1963, dass die Schüler keine Möglichkeit hätten, den abwertenden, herabsetzenden Schlägen etwas entgegenzusetzen.

„Die Prügelstrafe stand ganz hoch im Kurs“, sah ein anderer Praktikant 1964, der von einigen Lehrern den Eindruck hatte, dass „sie ihre Schüler nicht als Menschen, sondern als Objekte betrachteten“.

Gewalt als Erziehungsmethode

Körperliche Züchtigung war eine gesellschaftlich anerkannte Erziehungsmethode und bis in die 70er Jahre hinein gesetzlich erlaubt. Die damaligen Heimkinder waren ganz besonders davon betroffen. „In einem System von Befehl und Gehorsam, dem unerbittlichen Zwang zur Konformität, mussten sie das Gefühl nicht als eigenständige Individuen wahrgenommen zu werden, als prägend erfahren“, schreibt die Historikerin Inga Bing von Häfen. Harald Rau ermutigt zum Lernen: „Denn auch jetzt, unter sehr viel besseren Bedingungen, gibt es die Hilflosigkeit der Helfer, sind Gewalt und Übergriffe nicht ausgeschlossen, muss das richtige Maß von Nähe und Distanz immer wieder neu abgewogen werden.“

Die mit wenigen Fotos illustrierte Veröffentlichung ist wertvoll für jeden, der sich für Kindheit und Jugend interessiert.

„Ich habe das Buch in einem Zug durchgelesen und bin sehr beeindruckt von der Arbeit. Insbesondere imponiert mir die Vielfalt der Perspektiven sowie die Sorgfalt, mit der die Autorinnen recherchiert und analysiert haben“, sagt der Pädagoge und Jesuit Pater Klaus Mertes.

Die Dokumentation „Du bist und bleibst im Regen – Heimerziehung in der Diakonie in den 50er bis 70er Jahren in Oberschwaben“, von Inga Bing von Häfen und Nadja Klinger, Berlin 2014, ist im Wichern-Verlag erschienen und kostet 14,95 Euro.


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