Ravensburg / sz - Es ist der 28. April 1945. Französische Soldaten halten mit ihrem Panzer auf der Schussenstraße, Ecke Kuppelnaustraße. Sie gehören zur 1. französischen Armee unter dem Oberbefehl von General Jean de Lattre de Tassigny, der im Laufe des Jahres 1945 ganz Süddeutschland eroberte. Die Besatzung springt aus ihrem Tank und stürmt in die Villa, in der der bekannte Ravensburger Rechtsanwalt Hermann Alfred Bendel mit seiner Frau Klara und den beiden Töchtern Irmgard und Erika lebt. Ohne zu fragen, schlagen die völlig erschöpften Soldaten bei den Bendels ihr Lager auf, essen, schlafen und lassen einiges Tafelsilber mitgehen. "Sie schliefen auf dem Boden und hatten zwei Hunde dabei," erinnert sich die damals 16-jährige Erika Diehn, geborene Bendel. "Als sie wieder weg waren, hat es fürchterlich bei uns ausgesehen."
Wie so viele Ravensburger erleben auch die Bendels in den ersten Monaten der Besatzung die Willkür und das Recht des Siegers, sich einfach das zu nehmen, was da ist. "Am Anfang war man den Übergriffen der Franzosen vollkommen ausgeliefert", erinnert sich Erika Diehn. In der ehemaligen NS-Kreisleitung in der Seestraße richtet Capitaine Steiner, ein Ungarndeutscher, sein Hautquartier ein und übernimmt das Amt des Gouverneurs. Er sollte dort für sechs Monate der mächtigste Mann in Ravensburg sein, ehe er abgelöst wurde. Steiner, so berichtet es der Journalist Paul Weh, sei eine gewalttätige, herrische und unaufrichtige Natur gewesen – ganz anders als seine Nachfolger. Und auch der gleichfalls in der Seestraße residierende Leiter der Sûreté, der französischen Sicherheitspolizei, Leutnant Zimmer, ein Elsässer, scheint nicht viel besser gewesen zu sein. Die erste amtliche Bekanntmachung der Besatzungsmacht führt nicht gerade dazu, dass sich die Ravensburger sicher fühlen. Niemand dürfe sich zwischen 20 Uhr bis 7 Uhr morgens im Freien aufhalten. Alle Haustüren hätten die Nacht über offen zu stehen. Fotoapparate, Radios, Ferngläser und Waffen seien am nächsten Tag auf dem Rathaus abzugeben.
"Angst hatte ich eigentlich keine", erzählt die heute 86-Jährige. "Wir waren froh, dass der Krieg aus war und die Naziherrschaft ein Ende hatte." Nur an eine Situation kann sie sich erinnern, in der es für sie brenzlig wurde. "Eines Nachts haben zwei Offiziere bei uns geläutet. Keine Ahnung, was die wollten. Jedenfalls standen sie plötzlich bei uns im Schlafzimmer. Sie haben mich und meine vier Jahre ältere Schwester angeschaut. Da dachte ich schon: Oh weh, jetzt passiert gleich etwas. Sie sind dann aber wieder gegangen." Erika Diehn und ihre Schwester nehmen dieses Erlebnis mit Galgenhumor. "Weißt du was, sagte ich zu meiner Schwester, denen waren wir jetzt nicht schön genug."
Inbesitznahme von Wohnraum
Die willkürliche Inbesitznahme von Wohnraum – wie sie die Bendels erlebt haben – gehört zur selbstverständlichen Praxis der Besatzer. Zwar heißt es offiziell, man wolle sich auf Wohnraum von NSDAP-Mitgliedern beschränken, doch in der Realität nehmen die französischen Offiziere dort Quartier, wo es ihnen am besten gefällt. Bis September 1945 beschlagnahmen die Franzosen 69 Wohnungen und 1749 Einzelzimmer. Bei den Bendels leben zuerst drei Einquartierte. "Der eine war ein sehr vornehmer Herr, ein Marquis, ich vermute, er war Geistlicher", sagt sie, "und ein Feldwebel, im bürgerlichen Beruf Frisör, aus der Normandie. Sein Bursche, war weniger angenehm. Der hat überall seine Pistole rumliegen lassen." Danach bekommen sie einen Offizier, der in Ravensburg stationiert ist. Seine Familie lebt in Marokko. "Der war sehr liebenswert und hat mir und meiner Schwester französisch beigebracht." Jeden Abend müssen Erika Diehn und ihre Mutter für die Besatzer kochen. Vorspeise, Hauptgericht und Nachspeise. Die Lebensmittel bringen die Soldaten selbst mit. "Wir haben dann immer so viel gekocht, dass es auch für uns gereicht hat."
So groß die Sieger in diesen ersten Monaten auch auftrumpfen und den Ravensburgern zeigen, wer der neue Herr in der Stadt ist: Ganz ohne die Mithilfe der Deutschen kommen sie nicht aus. Bereits am 3. Mai lässt Gouverneur Steiner den politisch unverdächtigen früheren Herausgeber des "Oberschwäbischen Anzeigers" Max Kah eine Liste mit Gegnern des Nationalsozialismus anfertigen, die die Grundlage für viele Personalentscheidungen wird.
Auf dieser Liste steht wahrscheinlich auch der Name von Erika Diehns Vater, Hermann Bendel. Der Rechtsanwalt war 1932 bis 1933 Fraktionsvorsitzender der Zentrumspartei im Gemeinderat. Nach der Machtübernahme durch die Nazis wurde er politisch kaltgestellt. "Mein Vater war von Anfang an ein Antinazi", sagt Erika Diehn. "Bei einer Faschingsveranstaltung hat er einmal laut gerufen: ‚Nun schreit nur Heil und immer Heil, bis ihr hinunter rutscht am Seil’."
Bendel steht unter der besonderen Beobachtung der Machthaber. Bei seinen Prozessen, die er während des Krieges führt, ist immer ein Parteibonze anwesend und im Haus der Bendels wohnt ein Gestapo-Mann inkognito. Wie gefährlich die Situation für ihren Vater allerdings tatsächlich ist, begreift Erika Diehn aber erst als Hermann Bendel am 23. August 1944 verhaftet wird, drei Tage im Gefängnis sitzt und dann zu Schanzarbeiten nach Lothringen verurteilt wird. Seine Festnahme geschieht im Zuge der "Aktion Gewitter", mit der die Nazis unbarmherzig die Verschwörer und Hintermänner des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 verfolgen. "Nur das Eingreifen eines Kindheitsfreundes, der eine hiesige NSDAP-Größe war, ist es zu verdanken, dass er nicht vor den Volksgerichtshof in Berlin gestellt wurde. Das wäre wahrscheinlich das Ende gewesen", sagt Erika Diehn.
Und nun, Anfang Mai 1945, drängen ihn einige Honoratioren den wichtigen Posten des Landrats zu übernehmen. Nur unter äußerstem Widerstreben willigt Hermann Bendel ein. Am 7. Mai 1945 wird er zum kommissarischen Landrat ernannt. Hierarchisch steht nur der Gouverneur über ihm. 1947 scheidet er dann aus dem Amt aus und nimmt seine Tätigkeit als Rechtsanwalt wieder auf, wird Präsident des Landesgerichts Tübingen und dann Präsident des Landesgerichts Ravensburg.
Seine Tochter Erika macht 1948 auf der Mädchen-Oberschule im alten Spohngebäude Abitur. Erika Diehn besteht als eine von fünf jungen Frauen ihre Prüfungen. Sie wird Verlagsbuchhändlerin, heiratet und lebt bis in Ravensburg.