Ravensburg / sz - Kraft, Akrobatik und Flexibilität: Hinter der sichtbaren Leichtigkeit der Bewegungen verbergen sich akribisches Training und der Wille, es immer wieder zu versuchen, bis eine Figur passt. Poledance ist nichts für Leidenschaftslose.
Im Keller eines Industriekomplexes in Weingarten winden sich zehn junge Frauen vor einer riesigen Spiegelwand filigran um blanke Chromstangen, die bis zur Decke reichen. Dezent läuft im Hintergrund Musik, die Fenster sind vor unliebsamen Zuschauern abgedunkelt. Es quietscht, wenn sie sich aus drei Metern Höhe mit angezogenen Beinen, Oberkörper nach unten fallen lassen und kurz vor dem Boden abbremsen. "Drop" heißt diese waghalsige Figur, bei der dem Zuschauer vor Schreck fast das Blut in den Adern gefriert, wenn er sie zum ersten Mal sieht.
Verbindung von Kraft und Tanz
Zwei Mal in der Woche kommen sie nach Feierabend ins Studio und trainieren jeweils eine Stunde: Anita, Jennifer, Chantal, Nadja. Alle Mitte 20. Tagsüber sitzen sie in Büros, arbeiten im Marketing, Controlling, in der Logistik oder im Labor. Sie gehören zu den Fortgeschrittenen. Zwischen zwei und drei Jahren sind sie schon dabei. So lange kann es dauern, bis eine komplexe Figur wie der "Drop" so sitzt, dass es auch ohne Hilfestellung geht. Natürlich ist die Sportart mit den üblichen Klischees behaftet, die schnell Nachtclub-Assoziationen hervorrufen. "Die erste Reaktion ist erst einmal Befremdung", sagt Anita. "Doch wenn ich erkläre, was es eigentlich bedeutet, ist das schnell vorüber."
Poledance ist in Deutschland vor allem durch Talentshows im Fernsehen bekannt geworden. Trainerin und Inhaberin Irina Mauch entdeckte ihre Leidenschaft für den Tanz an der Stange, als sie eine Arbeitskollegin einmal zum Training mitnahm. "Da wusste ich, das ist meins." Die Verbindung von Kraft und Tanz faszinierte sie.
Im Juni 2011 eröffnete die 28-Jährige ihr erstes Studio in Weingarten in der Danziger Straße. Ein weiteres folgte zwei Jahre später in Langenargen. Mittlerweile hat Freaky Fitness 115 Mitglieder. Die Jüngste ist sechs Jahre alt, die Älteste ist 55. Wie Geckos an der Wand kleben sie an den Stangen: kopfüber, horizontal, vertikal, schräg – nur gehalten von ihrer Kraft und den richtigen Druckpunkten an den Achseln, Hüften, Oberschenkeln und Füßen.
Die Anstrengung ist den Damen kaum anzusehen. Leicht und flüssig greifen ihre Hände über, finden die Beine Halt, und biegen sich die Körper in unmöglichen Winkeln um die Stangen. Immer wieder wischen sie mit Handtüchern die Chromfläche der Stangen trocken, tragen Haarspray oder Magnesium auf, um festen Halt zu haben.
Der "Grip", wie sie es nennen, ist wie eine Versicherung, die sie vor gefährlichen Stürzen schützt. Und er verursacht dieses unangenehme Quietschen, das blaue Flecken und rote Stellen am Körper hinterlässt – und bei dem auch schon mal Hautfetzen an der Stange zurückbleiben. "Es tut weh", sagt Nadja. "Am Anfang natürlich mehr als jetzt. Auch die blauen Flecken werden weniger. Aber ganz ohne Schmerzen geht es nicht."
Training für den ganzen Körper
Warum also? "Ich hatte die Nase voll vom Fitness-Studio", sagt Judith, die bei Vetter-Pharma im Schichtbetrieb in der Abfüllung arbeitet. "Immer wieder dieselben monotonen Übungen. Ich wollte etwas Anspruchsvolles. Das habe ich hier gefunden." Poledance ist nichts für Leidenschaftslose. Es verlangt Ehrgeiz und Durchhaltevermögen. Die Trainingsfortschritte sind je nach persönlichen Voraussetzungen eher langsam und klein. Dafür ist die Freude, wenn endlich etwas gelingt, umso größer. Grundsätzlich ist das Ganzkörpertraining für jeden geeignet. "Kraft aufzubauen geht bei den meisten ziemlich schnell", sagt Trainerin Irina Mauch. "Bei der Beweglichkeit dauert es hingegen länger."
Poledance ist auch eine Wettkampfsportart. Die Bewertung der Choreographie aus Figuren und Musik erfolgt ähnlich wie beim Eiskunstlauf, es gibt Pflicht- und Kürteile. Im Double, bei dem zwei Athletinnen gemeinsam antreten, kommt es zudem auf Gleichzeitigkeit an.
Deutsche Meisterin 2013
Im "Freaky Fitness" trainieren fünf junge Frauen für Medaillen bei nationalen und internationalen Meisterschaften. Allen voran Irina Mauch selbst. Sie wurde 2013 mit ihrer Partnerin Simone Fluhr Deutsche Meisterin im Double und nahm an den Weltmeisterschaften in London teil.
Einen großen Teil des Tages verbringen berufstätige Menschen an ihrem Arbeitsplatz. Umso wichtiger ist es vielen, die kostbare Freizeit als Gegenpol zum Job zu genießen. Und auch, wenn hin und wieder Couch samt TV-Programm locken: Die meisten gehen ihre freien Stunden aktiv an, treffen sich mit Freunden, um einer gemeinsamen Leidenschaft nachzugehen. In ihrer Serie "Ravensburg nach Feierabend" wird die "Schwäbische Zeitung" in den nächsten Wochen viele – auch ungewöhnliche – Hobbys vorstellen; vielleicht dienen die Artikel auch als Anregung. Wer mehr über Poledance wissen möchte, kann sich per Mail unter info@freaky-fitness.de informieren.