Ravensburg / sz - Unverständnis, Empörung, Wut, Entsetzen: Die Reaktionen der Menschen, die direkt oder indirekt mit dem Problem befasst sind, haben hohen emotionalen Gehalt.
Es geht um die ambulante Versorgung schwerstkranker Menschen, die ihre letzte Lebensphase zu Hause verbringen möchten. Konkret: um die Versorgung mit Schmerzmitteln, sogenannten Morphin-Kassetten, die an Schmerzpumpen angeschlossen werden. Dadurch ist es möglich, den Wirkstoff gleichmäßig über lange Zeiträume zu verabreichen. Außerdem können Patienten die Dosierung ihrer Medikamente bei Schmerzspitzen über eine Zusatzgabe für eine kurze Zeit erhöhen. Jetzt steht diese Art der Behandlung auf der Kippe. Und auch für Außenstehende ist kaum fassbar, was eine sture Bürokratie da jetzt exekutiert hat.
Als in der vergangenen Woche die Abgeordneten des Deutschen Bundestags über das brisante Thema Sterbehilfe debattierten, herrschte in einem Punkt parteiübergreifende Einigkeit: Die Palliativmedizin und die Hospizarbeit sollen verbessert und ausgebaut werden. Gerhard Meuret wusste das schon vor einem Vierteljahrhundert. Der damalige Chefarzt für innere Medizin am Ravensburger Elisabethen-Krankenhaus gründete im Jahr 1989 „Clinic Home Interface“ (CHI). Es war und ist ein Vorzeigeprojekt, das damals erste seiner Art in Deutschland. Gegen zahlreiche Widerstände konnte Meuret durchsetzen, dass Patienten, die nicht mehr therapierbar waren, nach Hause entlassen und dort im Verbund mit Hausärzten, Fachpflegepersonal und Angehörigen versorgt werden konnten. Das Apotheker-Ehepaar Uwe und Marie-Luise Tesch war von Anfang an dabei. Uwe Tesch sagt rückblickend: „Professor Meuret kam zu uns und sagte, er könne es nicht mehr ertragen, Patienten den Wunsch zu verweigern, die letzte Lebensphase daheim verbringen zu können.“ 25 Jahre lang haben die Teschs die Morphin-Kassetten für CHI, für Palliativmedizner, in jüngerer Zeit auch für das Hospiz in Wangen im Allgäu, hergestellt – ohne eine einzige Panne. Das gilt auch für alle anderen niedergelassenen Apotheken, die Morphin-Kassetten hergestellt haben. Am 3.November erreichte Marie-Luise Tesch ein Brief des Regierungspräsidiums Tübingen, in dem ihr mit Wirkung zum 15.November 2014 die weitere Herstellung der Kassetten untersagt wurde. Das hat mit einer Änderung der Apothekenbetriebsordnung aus dem Jahr 2012 zu tun. Sie schreibt für die Herstellung der Kassetten sogenannte Reinräume vor. Für eine Apotheke wie die Ravensburger Dreiländerapotheke würde das eine Investition im hohen sechsstelligen Bereich bedeuten. Das ist nicht realisierbar. Zwei Jahre lang galt eine Übergangsfrist, jetzt ist sie abgelaufen. Marie-Luise Tesch hatte in vielen Gesprächen mit dem Regierungspräsidium nach einer Lösung gesucht – vergebens. „Die Sachbearbeiterin war sehr zugeknöpft.“ Tesch hat Anfang November um eine weitere Duldung bis Ende des Monats gebeten – vergebens.
„Wie ein Alptraum“
Simone Meisert leitet den Pflegedienst von CHI mit fünf Fachkräften. „Wir haben zurzeit sieben Patienten, die wir über eine Schmerzpumpe versorgen“, sagt sie. Und: „Wir brauchen, um arbeitsfähig zu sein, diese Kassetten.“ Spätestens Ende dieser Woche wisse sie nicht mehr, wer sie beliefern könne: „Das ist gerade wie ein Alptraum.“ Es gebe zwar jeweils eine Apotheke in Balingen, in Villingen-Schwenningen und in Nördlingen, aber die seien zu weit entfernt: „Wir können nicht mehr spontan reagieren.“ Auch die Apotheke am Ravensburger Elisabethen-Krankenhaus verfüge über einen Reinraum und könne die Kassetten herstellen. Aber das ist Theorie, weil der Apotheker nach Gesetzeslage für die ambulante Versorgung nichts abgeben darf. Simone Meisert schildert die Dringlichkeit ihres Anliegens am Fall einer Patientin. Die Frau mit Bauchspeicheldrüsenkrebs habe keine Medikamente mehr schlucken können, weil sie die sofort wieder erbrochen habe. Morgens habe der Hausarzt CHI verständigt, wenige Stunden später sei die Patientin mit Schmerzpumpe und Morphin-Kassette versorgt gewesen.
Der ärztliche Direktor von CHI, der Ravensburger Onkologe Christoph Nonnenbroich, hat am Donnerstag die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin über den Notstand informiert, den das Regierungspräsidium Tübingen verursacht hat. Es sei „erschreckend“, dass zu einem Zeitpunkt, an dem die ganze Gesellschaft über Sterbehilfe diskutiere, so etwas passieren könne. Mit den Sachbearbeitern des Regierungspräsidiums sei „keine Diskussion möglich gewesen“, man habe die bisherige Praxis „aus nicht einsehbaren Gründen gekippt“. Aber nicht nur CHI und seine Patienten hat das Schreiben aus Tübingen wie eine Keule getroffen. Ein Palliativ-Mediziner aus dem Bodenseeraum sagt auf Anfrage: „Ich habe jetzt größte Schwierigkeiten, meine Patienten zeitnah zu versorgen.“ Er brauche schlicht eine niedergelassene Apotheke, die ihm die Morphin-Kassetten herstellen könne. Der „absolute Engpass“, der jetzt herrsche, zwinge ihn, Patienten abzuweisen. „Ich kann nur noch ganz Wenige versorgen.“ Die Leiterin des „Hospizes am Engelberg“ in Wangen im Allgäu, die Ärztin Annegret Kneer, kommentiert die Entwicklung mit dem schlichten Satz: „Ich bin entsetzt und ganz arg enttäuscht.“ Nur noch in wenigen Notfällen bekomme sie jetzt Medikamente für die Schmerzpumpen. Sie schildert den Fall eines Mannes, „zufällig ein Apotheker“, der vor zwei Jahren zu ihr gekommen sei „als Sterbender“. Die Schmerzpumpe habe es ihm ermöglicht, den letzten Sommer seines Lebens zwei Monate lang auf seinem Segelboot auf dem Bodensee zu verbringen. „Sie glauben nicht, wie glücklich ihn das gemacht hat“, sagt Annegret Kneer. Jetzt wäre das nicht mehr möglich. Die Vorschrift mit dem Reinraum hält sie für ausgemachten Blödsinn und verweist ebenfalls darauf, dass es noch nie ein Problem mit der Sterilität gegeben habe.
Ganz deutlich wird der Leiter einer großen Krankenhaus-Apotheke im Südwesten. Eine Lobby – unter anderem aus der Pharma-Industrie – habe in der Politik die Änderung der Apothekenbetriebsordnung durchgesetzt. „Die Großen wollen die Kleinen kaputtmachen.“ Die Vorschrift eines Reinraums sei „völlig überkandidelt, es wird der Maßstab Industrie gesetzt“. Der Mann klingt nicht nur verbittert, er ist es, wenn er sagt: „Es geht nicht mehr um den Patienten, es geht nur noch ums Geld.“
Aufschub abgelehnt
Und was sagt das Regierungspräsidium Tübingen? Pressesprecher Daniel Hahn macht am Telefon den Eindruck eines etwas ratlosen Menschen mit einem unguten Gefühl im Bauch. „Ja“, sagt er, „das stimmt, mir ist nicht wohl bei der Sache.“ Er schildert ausführlich das Prozedere. Man habe Frau Tesch bereits am 13.Februar mündlich mitgeteilt, dass die Ausnahmegenehmigung auslaufe. Der Gesetzgeber habe leider eine „unbefriedigende Situation“ geschaffen. Den Antrag der Ravensburger Apothekerin, wenigstens zwei Wochen Aufschub bis Ende November zu gewähren, habe seine Behörde aus haftungsrechtlichen Gründen abgelehnt. Aber Frau Tesch sei auch darauf hingewiesen worden, dass nach § 17, Absatz 6, c, Nr. 5 für „dringende Fälle“ Ausnahmen erlaubt seien. Die Frage, was die jetzige Situation aus Sicht des Regierungspräsidiums konkret bedeute, beantwortet der Pressesprecher so: „Ganz konkret heißt das, dass wir an Recht und Gesetz gebunden sind.“
Aus Annegret Kneer, der Frau, die das Hospiz in Wangen leitet, bricht ein bitterer Satz heraus, wenn sie an das jetzt geltende Recht und Gesetz denkt: „Wenn man den Menschen die Schmerzpumpen wegnimmt, kann man ein Sterbehilfegesetz schnell voranbringen.“